Berlin – Erkrankungen des Nervensystems und der Psyche liegen in der Regel komplexe und vielfach unbekannte Ursachen zugrunde. Ein nicht zu unterschätzender Risikofaktor für neurologisch-psychiatrische Erkrankungen ist eine unzureichende Versorgung mit bestimmten Vitaminen und Mineralstoffen. Darauf wiesen Wissenschaftler bei einem Symposium der Gesellschaft für Biofaktoren e.V. (GfB) am 7. November 2015 in Berlin hin. Einige der lebenswichtigen Nährstoffe, wie z.B. B-Vitamine, sind für die reibungslose Funktion der Nerven und des Gehirns unverzichtbar, so dass Defizite schwerwiegende Folgen – von Nervenschäden bis hin zu Depressionen und Demenz – haben können. Darüber hinaus können bestimmte Biofaktoren offensichtlich auch schützende Effekte ausüben.
Neurologische und psychiatrische Erkrankungen gewinnen weltweit zunehmend an Bedeutung. Laut Weltgesundheitsorganisation erleidet jede dritte Person mindestens einmal in ihrem Leben eine depressive Phase oder eine andere psychische Störung. Die demographische Entwicklung führt außerdem zur Zunahme alterstypischer neurologischer Erkrankungen wie der Demenz. Ebenso nimmt die Zahl der Menschen mit der Zuckerkrankheit Diabetes mellitus stetig zu, von denen etwa jeder dritte an einer diabetesbedingten Nervenschädigung - einer so genannten diabetischen Neuropathie - erkrankt.
Im komplexen Krankheitsgeschehen scheinen auch Mikronährstoffe wie Vitamine eine nicht zu unterschätzende Rolle zu spielen, wie Wissenschaftler auf dem GfBSymposium verdeutlichten: „Es mehren sich wissenschaftlich fundierte Daten, dass die Versorgung mit Biofaktoren die Gesundheit des Gehirns und der Nerven tiefgreifend beeinflusst“, erklärte der Vorsitzende der GfB, Prof. Dr. Hans Georg Classen von der Universität Hohenheim.
Vitamin-Mangel trotz üppigen Nahrungsangebots?
Trotz eines vielfältigen Nahrungsangebots weisen auch hierzulande größere Bevölkerungsgruppen Versorgungslücken an Vitaminen und Mineralstoffen auf. Das verdeutlichte der klinische Pharmakologe Prof. Dr. Dr. Dieter Loew. Zu den Ursachen zählten Fehl- und Mangelernährung z.B. durch Fastfood, qualitativ schlechte Nahrung in Heimen oder unausgewogene Ernährungsgewohnheiten, aber auch ein erhöhten Bedarf in Folge von Erkrankungen sowie alters- oder arzneimittelbedingten Aufnahmestörungen im Magen-Darm-Trakt. Diese Defizite werden häufig nicht erkannt. Denn: „Mangelerscheinungen sind tückisch“, so Loew. Sie äußerten sich anfangs in unklaren, oft verkannten Krankheitsbildern, zumal meist ein latenter Mangel mit versteckter Symptomatik vorliege.
B-Vitamine: Schon leichte Defizite beeinträchtigen Hirn- und Nervenfunktion
So zeigten Erkenntnisse der letzten Jahre, dass ausgeprägte Mangelsituationen der BVitamine selten sind, leichte und mittelschwere Mangelsituationen hingegen häufig. Oft werden sie aber nicht als solche erkannt, erklärte Prof. Dr. Karlheinz Reiners, Stv. Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Universitätsklinikum Würzburg und wissenschaftlicher Leiter des Symposiums. Eine unzureichende Verfügbarkeit fast aller B-Vitamine führe aber zu empfindlichen Störungen der Hirn- bzw. Nervenfunktion.
Ein Mangel an Vitamin B1 könne schon kurzfristig einen Einbruch der Leistungsfähigkeit in verschiedenen Teilbereichen des Nervensystems zur Folge haben: Im Gehirn reduziere sich das kognitive Potenzial bis hin zur Entwicklung einer Demenz. Leichtere Defizite zeigten sich in Konzentrationsschwäche, Vergesslichkeit, Orientierungsstörungen und zeitweiser Verwirrtheit. Im peripheren Nervensystem führt der Vitamin B1- Mangel zu Nervenschäden, zu einer so genannten Polyneuropathie, die sich meist zuerst durch Missempfindungen wie Kribbeln, Brennen, Taubheit und sensible Störungen in Füßen oder Händen bemerkbar macht. Nervenschäden dieser Art treten häufig auch in Folge eines erhöhten Alkoholkonsums (alkoholische Polyneuropathie) oder eines Diabetes mellitus (diabetische Polyeuropathie) auf.
Bei der diabetischen Neuropathie werden B-Vitamine – insbesondere die Vitamin B1- Vorstufe Benfotiamin – auch therapeutisch angewendet, wie Prof. Hilmar Stracke, Stv. Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, ausführte. Die Vitamin B1-Vorstufe Benfotiamin könne nicht nur den Mangel beheben, sondern auch ein wichtiges Enzym des Zuckerstoffwechsels aktivieren. „Dadurch wird die Bildung schädlicher Zuckerabbauprodukte reduziert, die bei Diabetes zur Nerven- und Gefäßschädigung beitragen“, so Stracke. Dass sich durch diese Behandlung auch die Symptome der diabetischen Neuropathie wie Schmerzen und Missempfindungen in den Füßen bessern lassen, wurde in klinischen Studien nachgewiesen.
Stracke wies darauf hin, dass bei Menschen mit Diabetes - insbesondere wenn sie mit dem Antidiabetikum Metformin behandelt werden - häufig auch ein Vitamin B12-Mangel auftritt, der sich durch ähnliche Symptome äußern kann wie eine Neuropathie. Dem liege meist eine durch das B12-Defizit verursachte Schädigung langen Rückenmarksbahnen zugrunde, die sogenannte funikuläre Myelose. Im Bereich der Psyche kann ein Vitamin B12-Mangel depressive Verstimmungen und kognitive Einbußen bis hin zur Demenz nach sich ziehen. Neben Menschen mit Diabetes zählen vor allem Senioren und jüngere Frauen sowie Vegetarier zu den Risikogruppen für einen Vitamin-B12-Mangel. Bei entsprechendem Verdacht sollte der Vitamin-B12-Spiegel überprüft werden, um irreversible Schäden zu vermeiden, rät der Experte.
Morbus Alzheimer: Essen gegen das Vergessen
Welche Auswirkungen Biofaktoren auf das Gehirn haben, wird auch im Rahmen der Alzheimer-Forschung untersucht. Bisher sind die Ursachen dieser alterstypischen neurodegenerativen Erkrankung trotz intensiver Forschung weitestgehend unbekannt, und ursächliche Therapien stehen nicht zur Verfügung. Präventionsstrategien sind daher in Anbetracht des dramatischen Häufigkeitsanstiegs der Erkrankung von großem Interesse, wie Prof. Dr. Gunter P. Eckert, Leiter der Arbeitsgruppe „Nutritional Neuroscience“ an der Goethe-Universität Frankfurt, ausführte: „Studien belegen, dass sich durch geistige und körperliche Betätigung, aber auch durch eine gesunde Ernährung das Alzheimer-Risiko senken lässt.“ Hier stehe die mediterrane Ernährung (MedDiät) im Fokus, die durch eine Zufuhr von reichlich Obst und Gemüse, Olivenöl, Nüssen und Fisch, aber wenig rotem Fleisch gekennzeichnet ist. Diese Kost enthalte viele wertvolle Polyphenole und Vitamine – vor allem B-Vitamine sowie die Vitamine D und E. „Neueste Erkenntnisse belegen, dass Polyphenole und Vitamine die Abwehrbereitschaft des Gehirns gegenüber schädlichen Sauerstoffverbindungen steigern und den Energiestoffwechsel verbessern“, so der Wissenschaftler, der mit seiner Arbeitsgruppe den Einfluss von Nährstoffen auf Alterungsprozesse des Gehirns erforscht.
„Lichtblicke“ aus der Forschung: Vitamin D bei Multipler Sklerose
Einige neurologische Erkrankungen werden auch in Zusammenhang mit einem Vitamin- D-Mangel gebracht. Das unter Sonnenlichteinfluss in der Haut gebildete Vitamin hat und unter anderem starke Auswirkungen auf das Immunsystem. Diese Effekte könnten auch bei Multipler Sklerose eine schützende Rolle spielen, wie Privat-Dozent Dr. Mathias Buttmann, Oberarzt und Leiter der Spezialambulanz für Multiple Sklerose an der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums Würzburg, verdeutlichte. In den letzten Jahren habe eine Reihe epidemiologischer Studien überzeugende Belege erbracht, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer Multiplen Sklerose zu erkranken, umso größer ist, je niedriger der Vitamin-D-Spiegel ist, und dass bei bestehender Erkrankung erniedrigte Vitamin-D-Spiegel mit erhöhter Erkrankungsaktivität verbunden sind, so Buttmann. Es gebe außerdem Hinweise, dass eine Vitamin-DGabe das Risiko senken könnte, an einer Multiplen Sklerose zu erkranken. „„Auch wenn der Nutzen einer Vitamin-D-Supplementierung bei schon bestehender Multipler Sklerose noch nicht überzeugend belegt ist, lässt sich bereits jetzt konstatieren, dass in Deutschland für Patienten mit Multipler Sklerose eine Vitamin-D-Supplementierung zumindest in den Wintermonaten sehr wahrscheinlich sinnvoll ist, um zumindest einen hierzulande so häufigen Vitamin-D-Mangel zu vermeiden“, rät der Neurologe. Er hält eine auch bei längerfristiger Behandlung sichere Dosis von 2000 IE pro Tag für sinnvoll. Zusätzlich sollten die Patienten, entgegen früherer Empfehlungen, auch in die Sonne gehen – natürlich ohne dabei zu übertreiben.
ZNS-Infektionen: Vitamin D steigert Resistenz
Die starken Auswirkungen von Vitamin D auf das Immunsystem scheinen auch bei bakteriellen Infektionen des Zentralen Nervensystems von Bedeutung zu sein, wie aktuelle Studienergebnisse von Privat-Dozentin Dr. Marija Djukic, Institut für Neuropathologie der Universitätsmedizin Göttingen und Leitende Oberärztin des Geriatrischen Zentrums am Evangelischen Krankenhaus Göttingen-Weende, zeigen: Sie konnte mit ihrer Arbeitsgruppe bei experimentell herbeigeführter Hirnhautentzündung an Mäusen erstmals demonstrieren, dass Vitamin-D-Mangel die Fähigkeit von Immunzellen des Gehirns reduziert, Bakterien abzutöten. Djukic schließt aus ihren Untersuchungen, dass ein Vitamin-D-Mangel die Widerstandsfähigkeit des Gehirns gegen bakterielle Hirnhautentzündung beeinträchtigen könnte.
Mangel im Blick: Folgeschäden vermeiden
Insgesamt waren sich die Experten einig, dass der Vitamin-Versorgung mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Mangelzustände sind auch hierzulande bei bestimmten Risikogruppen verbreitet und können gravierende Auswirkungen auf Nerven, Hirn und Psyche haben. „Bei allen neurologischen Erkrankungen infolge des Mangels muss bedacht werden, dass die Zahl der Nervenzellen im Verlauf des Lebens nicht mehr zunimmt, d.h. ein Nervenzellverlust kann zu keinem Zeitpunkt mehr kompensiert werden“, warnte der wissenschaftliche Leiter Prof. Reiners abschließend. Dies mache eine Früherkennung von kritischen Versorgungssituationen überragend wichtig.
Eine Broschüre mit einer Zusammenfassung aller Vorträge des Symposiums kann kostenlos bei der Gesellschaft für Biofaktoren angefordert oder auf der Homepage unter www.gf-biofaktoren.de heruntergeladen werden: Gesellschaft für Biofaktoren e.V. – Postfach 400320 – 70403 Stuttgart – Fax: 0711 5406475 – E-Mail: info@gf-biofakforen.de
Quelle:
Symposium der Gesellschaft für Biofaktoren „Biofaktoren in der Prävention und Therapie neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen“ am 7. November 2015 in Berlin.